Der Apfelbaum

Aus Herzogtum Vexin
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Der Apfelbaum

Einst stand ein prachtvoller Apfelbaum am Rande der Stadt Rouillon im wunderschönen Fief Lême. Seine Krone war von unbekannter Größe und Pracht. Nicht ein einziger Bewohner der Stadt brachte den Mut auf seine Früchte zu pflücken. In einer kalten Herbstnacht wurde Jaques, der älteste Sohn des Meunier hinausgeworfen. Laufen sollte er, soweit ihn seine Beine trugen, seine eigenen Sous verdienen und nie wieder zurückzukehren.

Schaudernd vor Kälte und Angst und doch voller Tatendrang schritt Jaques einsam durch die Nacht. Als ihn die Beine nicht mehr trugen, legte er sich am Waldesrand hernieder. Sonnenstrahlen blitzten durch das Blätterdach und ließen ihn aus seinem Schlaf erwachen. Durch den gesamten Wald war er gelaufen, mehr als einen Tagesmarsch hatte er in nur einen Nacht geschafft. Müdigkeit, Hunger und Einsamkeit ermunterten Jaques zum Aufstehen. Als es bereits wieder dämmerte fand er sich vor dem prachtvollsten Apfelbaum wieder, den seine Augen jemals erblickten. Gierig stürzte er sich auf die reifen Früchte, aß bis ihm übel wurde und steckte sich seine Taschen voll. Die Augen, die ihn aus der Ferne beobachteten, bemerkte er nicht…

Mit Pferden und zu Fuß, bewaffnet mit Knüppeln und Forken suchten sie ihn, bereit ihn an den Pranger zu stellen. Verraten von einem alten Waschweib wurde Jaques wegen Diebstahls der heiligen Früchte verurteilt. Tage verbrachte er im Kerker Rouillons, bis der Seigneur de Lême endlich ein Urteil fällte. Die Hand sollte ihm genommen werden. Doch welche Arbeit sollte er dann ohne Hand verrichten können? Für immer sollte er ein Krüppel sein…

Jaques lebte einige Jahre am Rande von Rouillon außerhalb der Stadtmauer, in sich gekehrt und bekannt als sonderbarer, merkwürdiger, gefährlicher Mann. Viele Male habe er versucht sich das Leben zu nehmen, immer schien er nicht mutig genug. Doch seine Feigheit machte sein Leid nur noch viel größer. Niemand brauchte einen Krüppel, noch einen Feigen dazu, als Arbeiter, kein Weib sahn ihn jemals an. Verstoßen und allein verbrachte Jaques die Tage seines Lebens. Sein vierzigster Sommer neigte sich bereits dem Ende als er eine junge Mademoiselle sah. Blass, zu dünn aber dennoch von anmutiger Schönheit lief sie auf die Tore der Stadt zu. Regelmäßig ging das junge Mädchen nach Rouillon, kehrte jedoch nach kurzer Zeit schon wieder zurück. Es brauchte Mondläufe bis Jaques so fasziniert von dem jungen Mädchen war, dass er ihr folgte. Sie ging bis zum Tore der Stadt und die Wachen fragte sie, was sie wolle. „Essen“ forderte sie für sich und ihre hungernden Geschwister. Lachend wendeten sich die Wachen um und schickten das junge Mädchen fort. Der Sommer neigte sich dem Ende zu und die Nächte wurden wieder kälter. Beinahe täglich versuchte das junge Mädchen ihr Glück am Tore der Stadt, doch niemals wurde ihr geholfen.

Waren es die Gerüche der Herbstluft, die kalten Temperaturen oder die Verzweiflung des Mädchens, die Jaques die Erinnerungen an die Nacht zurückbrachte, in der er vom prachtvollen Apfelbaum aß? Was auch immer es war, es bewegte ihn zum aufstehen. Er verfolgte das Mädchen und schlich sich n ihre Hütter, sah ihre Geschwister im Hause kauern, vier waren es. Sie lagen auf einem Lager aus Stroh und versuchten sich zu wärmen. Im Garten erblickte er den Versuch ein Beet anzulegen, doch keine Pflanze war zu sehen. Trotz seiner starken Schmerzen trieb es Jaques quer durch den Wald, um die Stadt herum, an den Waldrand nahe des Baumes, der einst sein Schicksal zeichnete. Er wartete auf vollständige Dunkelheut und schlich sich voller Angst heran. Einarmig und müde vom Marsch pflückte er hastig so viele Äpfel, wie nur möglich. Sein Umhang nutzt er dabei als Sack. Über 100 Früchte sammelte er und schlich sich gerade noch rechtzeitig, vor Sonnenaufgang in den Wald zurück. Seine Beine wollten keinen Schritt mehr tun, er kroch nahezu durch den Wald. Nur wenige Schritte vor seinem Ziel, legte er sich nieder und aß einen der Äpfel mitsamt Stiel und seinen Kernen. Anschließend fiel er in einen traumlosen Schlaf. Erschöpfter als zuvor schreckte er hoch. Seine verbliebene Hand pulsierte so stark, als wolle sie ihn daran erinnern nicht mit seiner Beute erwischt zu werden.

So schleppte er sich bis zur Hütte des Mädchens, er hatte den gesamten Tag verschlafen und es dämmerte erneut. Bis in den Garten schleppte er sich. Als er dort einschlief, wachte Jaques nie wieder auf. Ewig ungeliebt, ohne Weib und Aufgabe im Leben und ohne zu sehen, ob er sein Ziel erreicht hatte, entglitt er dem Leben.

Hektisch, schockiert und angewidert erblickte das junge Mädchen den Toten Jaques. Bei sich hatte er nichts außer 99 Äpfel. Doch, was sollte sie damit tun? Es war doch verboten diese vom heiligen Baum zu pflücken, doch, sie hatte sie ja nicht gepflückt dachte sie sich. Nur damit ihre Geschwister etwas zu essen bekamen, trug sie alle Äpfel hinein. Sie aßen so viele Äpfel, wie sie nur konnten und den Rest kochten sie sorgfältig ein. Voller Dankbarkeit und vieler Fragen begruben sie den ihnen unbekannten Landstreicher hinter ihrem Haus im Garten. Der kommende Winter war ungewöhnlich mild und die eingekochten Äpfel halfen, ganz besonders den kleinen Geschwistern, die kalten und einsamen Nächte zu überstehen.

Täglich sprach das junge Mädchen den Segen der heiligen Sophie über Jaques Grab. Doch erst als im nächsten Frühling mitten aus dem Grabe ein Apfelbaum wuchs, verspürte sie wahre Dankbarkeit. Der Baum wuchs ungewöhnlich schnell und trug schon im ersten Sommer Früchte. Zwar hatte Jaques keinen Apfelkernbeutel bei sich gehabt, doch war der Apfel, den Jaques kurz vor seinem Tode aß, der nun den Garten als kleiner Baum schmückte.

Schon zwei Sommer später reichten die Äpfel für mindestens drei Dutzend Gläser eingekochte Äpfel und jeden Sommer wurden es mehr. Doch anstatt sie zu verkaufen, verschenkten sie die Gläser an Leidende und einsame Landstreicher, denn ihr wurde bewusste, dass selbst wenn man sie nicht beachtet, diese dennoch die Gelegenheit bekommen sollten, ihr reines Herz zu beweisen.